Langes Lektüren-Amerika ist Anders

Amerika zu verstehen ist nach dem Wahlsieg Donald Trumps wichtiger denn je. In Zeitungsartikeln, Büchern, im Fernsehen und im Radio wird oft ein Zerrbild der Vereinigten Staaten geboten – entweder gespeist aus grenzenlosem Hass oder dümmlich-naiver Bewunderung. Dem Arzt und Historiker Ronald D. Gerste, der unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung aus Washington berichtet, gelingt das Kunststück, seine Leser auf knapp 200 Seiten vorurteilsfrei zu informieren und gut zu unterhalten.

 Es muss nicht immer ein fußnotengesättigter Historienschinken sein. Ein gutes Taschenbuch tut’s auch!

Gern schauen wir moralisierend über den großen Teich. Und „The Donald“ bietet auch genügend Angriffsfläche für moralische Erwägungen. Doch Gerste kühlt unsere hitzige Moral schön ab: „Nach einem Präsidenten, der sich in einem Nebenraum des Oval Office von einer Praktikantin einen Blowjob geben lässt und anschließend vor laufender Kamera lügt, und auch nach den posthumen Enthüllungen über das Privatleben John F. Kennedys sind die Erwartungen an den Charakter des ersten Mannes im Staate nicht mehr so hoch wie einst.“

In zehn flüssig geschriebenen Kapiteln widmet sich  der Autor den wichtigsten historischen und politischen Fakten. Er beschreibt das Werden der jungen Nation und ihren Weg zur Weltmacht. Nach diesem chronologischen Teil beleuchtet Gerste die drei Säulen der Macht, nämlich das Weiße Haus, das Kapitol und den Supreme Court. In dem Kapitel „Patriotismus und Exzeptionalismus“ schildert er unter dem Schlagwort „America can’t do wrong“ die oft nur schwer erträgliche moralische Überheblichkeit der Amerikaner. Der Unterdrückung der Afroamerikaner, dem Fetisch Schusswaffen, den Bereichen Gesundheit und Bildung sowie dem Lebensgefühl des „American Way of Life“ sind weitere erhellende Kapitel gewidmet.

Ein Land voller Widersprüche

Amerika ist ein Land eklatanter Widersprüche. Im Gegensatz zu Europa waren die USA in den 1920er bis 1940er Jahre weder anfällig für Faschismus noch für Kommunismus. Es fand keine nennenswerte politische Radikalisierung statt. Im „New Deal“ wurden hingegen riesige Infrastrukturprojekte auf die Schiene gebracht, von denen das Land, dessen Infrastruktur heute teilweise verrottet, immer noch zehrt. Vizepräsident Joe Biden bezeichnete den New Yorker Flughafen La Guardia einmal als Einrichtung der Dritten Welt (in der es wesentlich bessere Flughäfen gibt, wie Gerste ironisch kommentiert). Die Herausforderung in Sachen Infrastruktur ist gigantisch, schreibt der Autor. Hier könnte der 45. Präsident in der Tat „Amerika wieder groß machen“.

Einerseits haben die Amerikaner die maßvolle Beschränkung getroffen, dass ihren Präsidenten nur maximal zwei Amtszeiten zur Verfügung stehen. Andererseits wird die politische Geschichte der USA von einer Linie der Gewalt durchzogen. Zahlreiche Präsidenten wurden ermordet, einige entgingen Attentaten. Zum Vergleich: „Der ranghöchste Politiker in einem demokratischen Deutschland, der von Mörderhand starb, war Außenminister Walther Rathenau im Jahr 1922.“

Auch wenn in den Vereinigten Staaten die Freiheit der Religionsausübung über weite Strecken gesichert war, so bedeutet dies nicht, dass alle Glaubensrichtungen im öffentlichen Leben gleich wohlgelitten waren oder sind. Ein Beispiel sind die Katholiken. Sie stellen mit einem zwanzigprozentigen Anteil an der Bevölkerung zwar die größte einzelne Religionsgemeinschaft dar. Doch es fällt auf, dass lediglich der 44. US-Präsident, John F. Kennedy mit Namen, katholisch war. Und selbst dieser wurde von radikalen Protestanten als Agent Roms angegangen.

Am Ende der Lektüre lernt man: Amerika ist nicht besser oder schlechter, sondern anders. Neben großartigen Leistungen in Wissenschaft und Technik und einem insgesamt „glücklichen Händchen“ der politischen Führer im Zweiten Weltkrieg und auch in weiten Teilen des „Kalten Krieges“ finden sich gravierende Herausforderungen in den Bereichen Gesundheit und Verkehr und schlimme moralische Verfehlungen gegenüber den Ureinwohnern und den Schwarzen. Und gleichzeitig ein total übertriebener Bohei um Minderheiten im Zeichen der PC. Doch bevor sich zum Beispiel wir Deutschen über den Waffen-Wahnsinn der Amerikaner erregen, sollten wir einen Blick auf unsere deutschen Autobahnen werfen. Hier betrachten tagtäglich Tausende Bürger ihre übermotorisierten Gefährten als eine Art Waffe, die sie gegen andere Verkehrsteilnehmer einsetzen.

Ronald D. Gerste: Amerika verstehen. Geschichte, Politik und Kultur der USA
Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 208 Seiten, 9,95 Euro.

Nach oben