Langes Lektüren: CDU-Politik wird nicht im Oberseminar gemacht

Die Theoriewelt des Politikwissenschaftlers Thomas Biebricher hat mir der parteipolitischen Wirklichkeit recht wenig gemeinsam.

Thomas Biebricher: „Geistig-moralische Wende“. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018. 320S., geb., 28 Euro.


Von Ansgar Lange

Mit „Geistig-moralische Wende“ hat der 1974 geborene Politikwissenschaftler Thomas Biebricher ein Buch vorgelegt, das überwiegend sehr positiv besprochen wurde. Seine Hauptthese ist, der deutsche Konservatismus habe sich erschöpft. Dies bezieht er auch auf den Zustand von CDU und CSU und unterliegt dabei dem gravierenden Irrtum, die Union sei jemals eine rein konservative Partei gewesen.

Der Autor holt sehr weit aus, vielleicht zu weit, um das angebliche Dilemma des deutschen Konservatismus zu beschreiben. Doch schon der Ansatz wirkt etwas schief. Zwar hat die Union die Geschicke der alten und der neuen Bundesrepublik weitgehend geprägt, doch dezidiert konservativ war sie dabei nie. Sonst wäre wohl auch eine solche Erfolgsgeschichte nicht möglich gewesen. Gerade, weil CDU und CSU eine Union in Form einer Volkspartei waren und sind, stellten sie über so viele Jahre den Regierungschef und waren meist als der größere Partner an einer Regierung beteiligt. Ohne christliche, soziale und wirtschaftsliberale Akzente wäre dies einer rein konservativen Partei niemals möglich gewesen.

Im Gegensatz zu den übrigen vielleicht eher theoretisch ausgelegten Rezensenten hat den Autor dieser Zeilen der Zugriff Biebrichers nicht recht überzeugt. Er lässt sich über den konservativen Denker Edmund Burke aus, schreibt über die Regierungspolitik in den Jahren 1982 bis 1989, kommt dann zurück auf die konservative Gegenbewegung zu 1968, beleuchtet konservative Positionen in den 1970er und 1980er Jahren, bringt auch den Historikerstreit irgendwie unter, um dann beim „Kanzlerwahlverein“ – also der CDU in den 1990er Jahren – und am Schluss bei der „Krisen-Kanzlerin“ zu enden. Sein Fazit überrascht dann wenig: Der Konservatismus hat sich erschöpft.

Als jemand, der für die CDU in der Kommunalpolitik tätig ist, lässt sich nur sagen, dass der Erkenntnisgewinn dieses Buches für die politische Praxis sehr gering ist. Oder spielen Edmund Burke, Odo Marquard, Helmut Schelsky, Arnold Gehlen, Hermann Lübbe und viele andere heute wirklich noch eine Rolle, wenn es um die Programmatik der Union geht?

Manche Rezensenten gerieten ob Biebrichers eleganter Sprache ins Schwärmen. Doch ist sie wirklich elegant oder nicht vielleicht gestelzt? Eine Kostprobe: „Getrieben von der Angst des Verlusts der absoluten Mehrheit in Bayern und dem Erstarken der AfD hat sich die CSU einer Strategie der artifiziellen Resubstanzialisierung des christsozialen Konservatismus verschrieben.“ Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner und verständlicher?

Am Ende der Lektüre dieses Buches ist nicht nur der Konservatismus erschöpft, sondern auch der Leser. Dieser hat vorher noch im Fazit erfahren, dass die CSU in den Rechtspopulismus abdriftet. Doch auch dieses Urteil erweist sich als fragwürdig. Die CSU hat nach der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur CDU-Parteivorsitzenden längst auf „Schmusekurs“ gegenüber der Schwesterpartei umgeschwenkt, weil man in München erkannt hat, dass allzu scharfe Töne beim Wahlvolk dann doch nicht so gut ankommen.

Dass die Union Elfenbeinturmdenkern wie Biebricher als konservativ erscheint, wundert einen allerdings nicht in einem Land, in dem die Grünen trotz Rufen nach Enteignungen von Immobilienbesitzern als liberale oder bürgerliche Partei gelten. Vielleicht haben sich also eher die Etiketten, die man den Parteien aufklebt, erschöpft und haben mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun.

 

Thomas Biebricher: „Geistig-moralische Wende“. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018. 320S., geb., 28 Euro.

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